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LehrbuchMediation

Leseprobe:

Hartmut Schäffer

Mediation – Die Grundlagen

Erfolgreiche Vermittlung zwischen Konfliktparteien

192 S., gebunden, Würzburg 2004 (mehr Informationen hier)

 

Schön und teuer:

Das Porträt der Mutter

Erika und Peter, zwei Geschwister, haben als letzten Elternteil ihre Mutter verloren. Über den Nachlass gibt es grundsätzliche Einigung. Ausnahme: ein Porträt der Mutter. Es zeigt die Mutter in jungen Jahren und wurde von einem inzwischen recht bekannten Künstler gemalt. Fachleute schätzen das Bild auf 10.000 Euro. Jedes der beiden Geschwister möchte das Bild haben. Wie sollen sie mit dieser Situation umgehen?

Option 1: Am schönsten wäre es, wenn sich die Geschwister direkt und friedlich einigen könnten. Immerhin ist es ihnen ja mit dem restlichen Nachlass gelungen. Aber gerade Erbschaftsstreitigkeiten sind auch bei an sich friedliebenden Erben nicht selten.  Der Grund: Durch den Tod des Elternteils verändert sich die Familienkonstellation noch einmal grundlegend. Vielleicht ist Peter an dem Bild gar nicht so viel gelegen. Aber er denkt: Meine Schwester war immer Mamas Liebling. Dagegen kam ich nicht an. Aber jetzt werde ich ihr zeigen, dass ich auch ernst zu nehmen bin. Solche Einstellungen sind den Kontrahenten oft noch nicht einmal bewusst. Aber unterschwellig beeinflussen sie das Streitverhalten. Manchmal wundern sich Konfliktparteien selber, warum ihnen scheinbar unwichtige Dinge im Laufe der Auseinandersetzung immer wichtiger werden. So könnte es sein, dass Erika und Peter auch als erwachsene, reife Menschen unfähig sind, diesen Konflikt alleine zu lösen.

Option 2: Aus einem Streitpunkt wird ein ausgewachsener Streit, aus dem Streit ein Krieg. Immer unversöhnlicher stehen sich die Geschwister gegenüber. Längst werden auch die bereits abgeschlossenen Nachlassvereinbarungen in Frage gestellt. Die Ehepartner und Angehörigen sind in den Streit hineingezogen und haben sich positioniert. Schließlich entscheidet sich Peter dafür, seinen Anspruch einzuklagen. Er zieht vor Gericht (zum Thema Konflikteskalation vgl. S. 163).

Mit dieser Option bekommt der Streit einen entscheidend anderen Charakter. Die wichtigste, für viele Kontrahenten erst langsam offenbar werdende Veränderung: Peter hat die Verantwortung für den Konflikt aus der Hand gegeben und dem Gericht übertragen. Nun kann er nicht mehr selber entscheiden. Rechtsanwälte und Richter sind eingeschaltet. Gerichte entscheiden nach Gesetzen, Normen und Vorschriften. Ihr Urteil muss verallgemeinerbar sein, das schließt individuelle, originelle Lösungen aus. Bedürfnisse und Gefühle spielen eine untergeordnete Rolle. Vielleicht steht am Ende die Konsequenz, die sich Peter erhofft: Er wird gewinnen, Erika verlieren – oder vielleicht doch nicht? Was, wenn Erika doch die besseren Argumente (oder den besseren Anwalt) hat? Der Streitwert ist ja auch nicht ganz unerheblich: Da sind also Gerichtskosten, Anwaltskosten...

Option 3: Vielleicht sind Peter und Erika doch nicht auf der Eskalationsschiene. Dann könnten Sie den Konflikt auch so lösen, dass sie einen Schiedsrichter einschalten. Den gibt es nicht nur im Fußball. Es gibt Schiedsämter, Ombudsmänner, Gütestellen und seit einigen Jahren in den Bundesländern sogenannte „Obligatorische Schiedsstellen“ (vgl. Pressenotiz auf der nächsten Seite). Schiedsstellen sind in der Regel wesentlich kostengünstiger als Gerichtsverfahren. Die Geschwister könnten natürlich auch einen guten Freund bitten, den Streit für sie zu entscheiden. Das würde sie vermutlich kaum mehr als eine gute Flasche Wein als Dankeschön kosten. Vielleicht könnten sie verabreden, dass jeder 10 Minuten Zeit hat, seine Ansprüche zu begründen. Der Freund würde sich dann entscheiden und sie würden den Schiedspruch akzeptieren.

In jedem Fall hätte die Entscheidung, eine Schiedsstelle einzuschalten, ebenfalls gravierende Konsequenzen für den Streitfall und seinen Ausgang. Wie bei Gericht geben Peter und Erika ihre Sache aus der Hand. Nicht sie, sondern eine dritte Instanz entscheidet über den Verbleib des Porträts der Mutter. Immerhin bleibt den beiden ein Minimalkonsens: nämlich das Vertrauen in die Konfliktlösungsfähigkeit des Schlichters. Sie können ferner darauf hoffen, dass auf ihre Gefühle und Interessen stärker eingegangen wird als bei Gericht (nicht umsonst ist Justitia blind...). Beim verbindlichen Schiedsspruch bleibt es aber in der Regel bei einem entscheidenden Umstand: Es wird einen Gewinner geben und einen Verlierer. Das Ergebnis bleibt für eine Partei unbefriedigend. Im Rollenspiel sagte ein Teilnehmer einmal: Ich habe ein Bild gewonnen, aber eine Schwester verloren.

Option 4: Vielleicht haben Erika und Peter schon einmal von der Möglichkeit gehört, Konflikte durch Mediation zu lösen. Der Hauptunterschied zum Schiedsspruch liegt darin, dass Mediatioren den Parteien die Entscheidungen überlassen. Sie vertrauen auf die Konfliktlösungsfähigkeit der Parteien. Sie helfen den Parteien, ihre Interessen und Bedürfnisse zu formulieren und einander verständlich zu machen. Sie helfen den Parteien, Lösungen zu erarbeiten, bei denen es keine Verlierer oder Besiegte gibt. Sie helfen den Parteien, maßgeschneiderte, faire und dauerhafte Vereinbarungen zu treffen. Beide Seiten sollen zufrieden sein.

Der Anspruch der Mediation mutet zunächst wie die Quadratur des Kreises an. Schließlich gibt es nur ein Bild, das kann man ja nicht auseinanderschneiden! Es gibt auch keine Patentlösung. Es gibt keine Paragraphen, die die Richtung weisen. Jeder Fall liegt anders. Die Lösung des Rätsels liegt darin, zu den wirklichen Bedürfnissen von Erika und Peter vorzustoßen. Beide möchten das Bild besitzen. Das jedoch sind Positionen, keine Bedürfnisse. Die Frage ist doch: WARUM möchten sie jeweils das Bild? Welche Interessen liegen ihren Wünschen zugrunde?

Nehmen wir einmal an, Erika hatte ein wirklich inniges Verhältnis zu ihrer Mutter. Sie war das Lieblingskind. Das Bild hat sie schon als kleines Kind bewundert, geliebt. Für sie ist mit dem Bild noch ein Zipfelchen der Mutter anwesend. Der Gedanke, das Bild zu verkaufen, ist ihr unerträglich. Lieber würde sie es in diesem Fall Peter lassen. Aber weil das Bild für sie einen so hohen emotionalen Wert besitzt, kann sie sich nichts Schöneres vorstellen, als das Bild im eigenen Wohnzimmer hängen zu sehen. Und das fast zu jedem Preis.

Peter hatte, wie schon festgestellt, ein distanzierteres Verhältnis zur Mutter. Auch wenn es so nicht stimmte: Er war der Meinung, gegenüber seiner Schwester immer den Kürzeren zu ziehen. So sehr er sich auch anstrengte, seine Mutter schien Erika immer vorzuziehen. Warum dann sein Interesse an dem Bild? Vordergründig ist es der materielle Wert von immerhin geschätzten 10.000 Euro. Das zuzugeben fällt Peter nicht leicht, es erscheint ihm pietätlos, fast unmoralisch. Schwerer wiegt seine „offene Rechnung“ mit seiner Mutter und Schwester. Konnte er schon die Zuneigung seiner Mutter nicht im gewünschten Maße bekommen, so besteht er jetzt auf ihrem Bild. Je mehr Erika es fordert, desto mehr verstärkt sich seine Haltung:  Immer musste ich nachgeben. Hier ist meine letzte Chance, EINMAL gegen Mutter und Erika zu gewinnen. Natürlich ist sich Peter dieser Bedürfnislage kaum bewusst. Er hat zu Erika gar kein schlechtes Verhältnis. Er ist vermutlich selber erstaunt, wie kompromisslos er für das Porträt kämpft.

Wir sehen: Zwei Geschwister wollen das schöne, wertvolle Porträt. Beide argumentieren mit dem Andenken an die Mutter. Während es jedoch für Erika um ein Herzensandenken geht, kämpft Peter immer noch um die Liebe der Mutter und damit um die Gleichberechtigung in der gegenseitigen Wertschätzung der Geschwister. Die POSITIONEN der Geschwister sind unvereinbar, beide fordern das Bild. Ihre BEDÜRFNISSE und INTERESSEN sind jedoch sehr unterschiedlich. Und genau hier setzt die Mediation ein.

Mediation ist keine Therapie, das sei vorweg gesagt. Trotzdem spielen Gefühle, Bedürfnisse und persönliche Hintergründe der Konfliktparteien keine geringe Rolle. Will man zufriedenstellende Lösungen, so muss man die Konfliktparteien dazu bringen, sich ein wenig ins Herz schauen zu lassen. Dafür einen vertrauensvollen Rahmen zu schaffen, gehört zu den Herausforderungen in der Mediation (zur Abgrenzung der Mediation von der Therapie vgl. S. 152).

Wie haben sich Erika und Peter geeinigt? Wir lassen sie einfach selber berichten.

ERIKA:

Ich bin ohne viel Hoffnung in die Mediation gegangen. Peter wollte unbedingt das Porträt, und ich verstand einfach nicht, warum er an diesem Punkt so stur war. Wir haben kein schlechtes Verhältnis und er wusste doch, wie sehr ich an diesem Bild hing. Ich spürte, dass er mir etwas auswischen wollte. Aber warum?

In der Mediation kam dann heraus, dass Peter darunter litt, dass ich bei der Mutter immer besser weggekommen war als er. Wir verstanden plötzlich beide, dass wir eigentlich nicht um das Bild kämpften, sondern wie schon als Kinder um die Zuwendung der Mutter. Das hat mich sehr bewegt, denn ich hatte Peters Bedürfnis nach Anerkennung zwar immer latent gespürt, aber nie so ernst genommen. Plötzlich erkannte ich, dass Peter das Bild nötiger hatte als ich. Ich bot ihm deshalb an, er könne das Bild behalten und ich würde mir auf seine Kosten eine Kopie machen lassen. Das wollte Peter aber nicht, obwohl ihm auch am materiellen Wert des Porträts gelegen war. Eine Rolle spielte dabei auch der Umstand, dass ich zwar verheiratet, aber kinderlos bin, während Peter eine Tochter hat. Wir haben uns dann so geeinigt: Ich bekomme das Bild als Dauerleihgabe für den Rest meines Lebens. Danach geht es zurück an Peter bzw. an sein Kind.

Diese Lösung hat mir gut gefallen. Der materielle Wert ist mir völlig egal. Jetzt kann ich das Bild mein Leben lang anschauen, allein das zählt. Und es ist ein schöner Gedanke, dass es nicht verkauft wird, sondern in der Familie bleibt.

 

PETER:

Durch die einfühlsamen und ermutigenden Fragen der Mediatorin konnte ich meine eigenen Wünsche besser verstehen und auch aussprechen. Als dann Erika von sich aus auf das Bild verzichten wollte, ist bei mir ein Knoten geplatzt. Plötzlich brauchte ich das Bild nicht mehr. An dieser Stelle ist meine Beziehung zu Erika ins Lot gekommen, und ich spürte auch, dass ich meinen Frieden mit Mutter machen konnte. Schade, dass ich es ihr nicht mehr selber sagen kann. Ich hätte schon viel eher meine Gefühle und Wünsche aussprechen sollen. Vielleicht war Mutter mein Konkurrenzdruck und mein gefühltes Liebesdefizit genauso wenig bewusst wie Erika.

 

Die Lösung finde ich super. Wir werden als Familie Erika gerne besuchen kommen und uns dann an dem Bild erfreuen. Dass es nach Erikas Tod in den Besitz meiner Tochter übergeht, freut mich besonders. Das Porträt unserer Mutter ist jetzt ein Familienerbstück. Und gleichzeitig, wie die Mediatorin sagte, ein Symbol für einen Familienstreit mit zwei Gewinnern. Glücklichen Gewinnern, füge ich hinzu.

 

Natürlich wirft unsere kleine Beispielsgeschichte viele Fragen auf. Zum Beispiel diese: Was wäre gewesen, wenn sich nicht nur die Positionen der Geschwister, sondern auch ihre Bedürfnislagen geähnelt hätten? Geht es in jeder Mediation so emotional zu? Wie kann es gelingen, zu den unausgesprochenen, oft versteckten Wünschen und Interessen durchzustoßen? Wie gut, dass wir erst am Anfang des Buches sind. So bleibt uns Gelegenheit, diese und viele weiteren Fragen in den nächsten Kapiteln aufzugreifen.