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Harvardprinzipien

ZS “Praxis Schule 5-10” Oktober 2003

Konfliktlösestrategien in der Schule:

Das Harvard Negotiation Project

Hartmut Schäffer

 

Was ist von einer Konfliktlösestrategie zu halten, die gleichermaßen anwendbar sein soll auf Konflikte in Politik, Wirtschaft, Kultur, Kirche, Familie und eben auch: Schule?! Genau das, nämlich den erfolgreichen konstruktiven Umgang mit Konflikten aller Arten, verspricht das Harvard Negotiation Project. Der misstrauische Leser wird mit einer Vielzahl von “Anwendungen” konfrontiert, die sich alle, wenn auch nicht exklusiv, auf die geistige Vaterschaft der Universität Harvard berufen: Mediation... Täter-Opfer-Ausgleich... Streitschlichtungs- bzw. Konfliktlotsenmodell... Konzept des sachbezogenen Verhandelns usw. Was also steckt hinter dem Harvard Negotiation Project, was macht es so erfolgreich und welche Rolle spielt es für die Konfliktlösestrategien in der Schule?

Einführung

Das Harvard Negotiation Project wurde 1978 von Roger Fisher ins Leben gerufen, einem – inzwischen emeritierten – Professor an der Harvard Law School. Die Frage, der er zusammen mit Kolleginnen, Kollegen und Studenten nachging, lautete: Warum werden Konflikte manchmal zur Zufriedenheit aller Beteiligten gelöst und warum scheitern so viele Konfliktparteien in diesem Bemühen? Seine Vorgehensweise war empirisch. Tausende von Konfliktfällen aus allen Bereichen des Lebens wurden zusammengetragen, insbesondere solche, die zu einem versöhnlichen Abschluss kamen. Fündig wurden Roger Fisher und sein Team vor allem in zwei sehr unterschiedlichen Bereichen. Zum einen waren es die Schlichtungsbemühungen der christlichen Kirchen. In den USA hatten z.B. die Mennoniten und die Quäker bewährte Konfliktlösestrategien. Zum anderen konnten die amerikanischen Gewerkschaften auf eine lange Tradition erfolgreicher Konfliktvermittlung zurückblicken.

Spannend und eben auch scheinbar etwas überraschend war das Ergebnis der Untersuchung, das Roger Fisher in seinem schon zum Standardwerk avancierten Buch “Getting to Yes” (Deutsch: Das Harvard-Modell: Sachgerecht verhandeln – erfolgreich verhandeln) 1981 veröffentlichte: Wo auch immer Konflikte erfolgreich gelöst wurden, besaßen sie einige übereinstimmende Prinzipien. Die Einhaltung dieser Prinzipien, so folgerte Fisher, müsste dann im Umkehrschluss zu besseren Konfliktlösungen führen.

Empfehlungen/ Prinzipien des Harvard Negotiation Projects

 

1. Gehe das Problem an, nicht die Menschen!

In Konflikten, denen wir ausgesetzt sind, stempeln wir die “andere” Seite gerne zum Feind, zum Konfliktgegner. Wo wir kritisiert werden, wo Forderungen an uns gestellt werden, fühlen wir uns schnell persönlich bedroht. Diese instinktive Reaktion verdunkelt unseren Blick für berechtigte Anliegen. Wir vermischen die Beziehungsebene mit der Problemebene. Wenn z.B. ein Kollege unser notorisches Zuspätkommen bei Konferenzen anmerkt, könnte unsere spontane Reaktion sein: “Das musst ausgerechnet Du sagen! Du, der doch immer...”  Wir lassen uns also nicht auf die vorgebrachte Kritik ein, sondern gehen postwendend zum Gegenangriff über. Das Ergebnis eines solchen leicht eskalierenden Streits: zwei Verletzte, zwei Verlierer.

Umgekehrt haben wir es ein Stück selber in der Hand, wie andere auf unsere Kritik reagieren. Eine Formulierung wie: “Das ist wieder einmal typisch, dass Du uns mit deinem ewigen Zuspätkommen aufhältst!” muss ja durch seine provozierende Verallgemeinerung im “Gegner” eine feindliche Reaktion auslösen. Wo es uns gelingt, das Problem so zu benennen, dass der oder dem Kritisierten die grundsätzliche Wertschätzung nicht entzogen wird, schaffe ich Raum für konstruktive Gespräche und Lösungsmöglichkeiten. (”Du bist heute wieder sehr spät dran. Ich muß dir sagen, dass mich dein Zuspätkommen ärgert, weil es auf Kosten unserer Zeit geht. Ich wünsche mir, dass wir mit unserer Konferenz pünktlich beginnen können...”)

2. Mache deinem Konfliktgegner zum Konfliktpartner

Dieser Rat geht über den ersten hinaus, denn er hilft nicht nur, das Problem zu versachlichen, sondern bezieht das Gegenüber gezielt in das Konfliktlöseprozess ein. “Behandle deinen Konfliktgegner wie einen Richterkollegen, mit dem du zu einem gemeinsamen Urteil kommen musst”, empfiehlt Roger Fisher. Indem ich dem oder der anderen die Fähigkeit zubillige, den Konflikt gemeinsam mit mir zu lösen, schenke ich ihm oder ihr Anerkennung, eines unserer elementarsten Grundbedürfnisse. Gleichzeitig stelle ich sicher, dass die Lösung einvernehmlich und wahrscheinlich auch dauerhaft sein wird. Und schließlich schalte ich um von Kampf und Vorteilsdenken auf Kooperation und faire Einigung. (“Wie könnten wir vermeiden, dass Konferenzen so spät anfangen?”...)

3. Nimm die Interessen und Bedürfnisse in den Blick, nicht die Positionen

Eine Konfliktposition ist die Spitze eines Eisbergs. Darunter verborgen sind Emotionen, die gelegentlich hochschwappen und so sichtbar werden, vor allem aber ruht sie auf elementaren Bedürfnissen oder Interessen.

Nehmen wir als Beispiel Simone. Sie ist sauer auf ihre Freundin Lea, weil sie ihr den Posten der Teamchefin im Volleyballteam weggeschnappt hat. Alle Spielerinnen sind der Meinung, Simone sei die bessere Spielerin, wenn ihre Leistungen in letzter Zeit auch sehr schwankend waren. Weil der Konflikt zwischen Simone und Lea immer mehr eskaliert, kommt es zu einem Streitschlichtungsverfahren. Die Konfliktpositionen sind klar: Beide Mädchen erheben Anspruch auf die Kapitänsbinde, nur eine darf sie tragen. Beide scheinen auch ähnliche Interessen damit zu verbinden, nämlich die Anerkennung, die diese Stellung mit sich bringt.

Im Verlauf der Konflikterhellung offenbart Simone den Grund für ihre schwankende Form: Ihre Eltern haben sich vor kurzem getrennt. Damit verbunden ist nicht nur eine hohe nervliche Belastung, sondern ein erheblicher Arbeitsaufwand. Simones Mutter ist nämlich der Situation kaum gewachsen, so dass Simone zwei jüngere Geschwister mit versorgen muss. Zur Zeit hat sie das Gefühl, dass ihr alles wegschwimmt: Sie hat Probleme mit der häuslichen Situation, bewältigt den Lernstoff nicht mehr, verliert ihre sportliche Anerkennung, hat Ärger mit der Freundin – und verwendet den Rest ihrer Energie darauf, die Trennung der Eltern nicht publik werden zu lassen, die sie irgendwie ebenfalls als persönliche Niederlage empfindet. Eine Konfliktlösung über die anfänglichen Konfliktpositionen wäre dieser komplexen Situation sicher nicht gerecht geworden.

Wir alle haben Bedürfnisse nach Anerkennung, Wertschätzung, Sicherheit, Sinnhaftigkeit oder Selbstverwirklichung. Aus diesen Bedürfnissen erwachsen Positionen, die sich leicht verfestigen und im Interessenskonflikt in Pattsituationen führen können. Die Rückbesinnung auf unsere zugrundeliegenden “eigentlichen” Bedürfnisse eröffnet neue Optionen und führt so oft zu kompatibleren Positionen und Konfliktlösungen.

4. Suche nach neuen Lösungen

Dieser Rat erwächst aus den gerade geschilderten Überlegungen. Für viele Konflikte gibt es nicht nur eine einzig mögliche Lösung. Es gibt Lösungen, die die Bedürfnisse beider Seiten berücksichtigen. In Streitschlichterausbildungen wird deshalb viel Wert darauf gelegt, wirklich zu den “eigentlichen” Bedürfnissen vorzudringen und danach mit der Methode des Brainstormings den Raum für alle nur möglichen – und unmöglichen – Lösungsoptionen zu öffnen. So lassen sich oft ganz kreative Wege zur Bewältigung des anstehenden Problems entdecken. Erst im zweiten Schritt werden dann die Lösungen daraufhin abgeklopft, ob sie wirklich gangbar und effizient sind und ob sie wirklich die Bedürfnisse beider Seiten optimal abdecken. Aber nur wenn in einem Streit so viel Verständnis füreinander vorhanden ist – oder durch kluges Verhalten gewachsen ist –, dass die Konfliktgegner wirklich kooperierende Konfliktpartner sind, besteht Offenheit für die Suche nach neuen, kreativen Lösungen. Das Harvard Negotiation Project spricht in diesem Zusammenhang von “Lösungen zum beiderseitigen Vorteil” oder von “Win-Win-Lösungen”. Im Falle unserer Volleyballspielerinnen hatte erst Simones Bereitschaft zur Offenlegung ihrer häuslichen Situation den Parteien eine partnerschaftlichen Lösung ermöglicht. Ihre Freundschaft zu Lea wurde erneuert und half ihr über die Trennung der Eltern hinweg. Lea und andere Klassenkameradinnen entlasteten Simone bei der Geschwisterbetreuung”, bis ihre Mutter wieder belastbarer wurde. So konnte Simone schulisch mitziehen und ihrem Platz im Volleyballteam behalten. Umgekehrt sah Simone ein, dass es in der gegebenen Situation fair und gut war, auf die Kapitänsbinde zugunsten von Lea zu verzichten. Im kommenden Schuljahr würden die sportlichen Karten den Leistungen entsprechend neu gemischt.

5. Vereinbare kooperative Kommunikationsregeln

Konfliktlösungen setzen eine Haltung voraus (Konfliktpartner statt Konfliktgegner), die sich auch in der Art der Kommunikation niederschlagen muss. Das Harvard Negotiation Project  spricht in diesem Zusammenhang von einem wertschätzenden Umgang, der ausreden lassen, zuhören und von sich selber sprechen (“Ich-Botschaften”) beinhaltet. Soweit der Konfliktpartner diese Gesprächsregeln nicht einhält – vielleicht hat sie oder er solche Regeln noch nie mit Streit in Verbindung gebracht – wird empfohlen, sie einzufordern: “Du bist echt aufgebracht, das kann ich verstehen. Trotzdem fände ich es gut, wenn wir einander ausreden lassen und zuhören könnten. Meinst du, wir kriegen das hin?”

Es versteht sich von selbst, dass wertschätzende Kommunikationsstrukturen deeskalierend wirken. Voraussetzung ist natürlich die Fähigkeit zumindest einer der Konfliktparteien, solchermaßen selbstdistanziert in einem Streit zu kommunizieren. Darüber hinaus kann es notwendig sein, den Konfliktpartner durch das eigene Vorbild regelrecht zu einer deeskalierenden, lösungsorierntierten Kommunikation anzuleiten.

Wenn zwei sich nicht mehr einigen können: Vom Harvard Negotiation Project zur Mediation

Die Ratschläge, die Roger Fisher in seinem Buch “Getting to Yes” zusammenfasste, erreichten ein Millionenpublikum. Sie wurden als “sound advice” empfunden, also als vernünftig und nachvollziehbar. Seine wissenschaftliche Feldforschung fand weltweite Beachtung und löste ein wachsendes Interesse an Konfliktforschung aus, das mit der in den 60er und 70er Jahren entstandenen weltweit pazifistischen Bewegung einen zusätzlichen Impetus erhielt. Viele Universitäten – neben Harvard stehen inzwischen z.B. die University of Denver, das Massachusetts Institute of Technology oder das Department of Peace Studies an der University of Bradford,  England, – beschäftigen sich heute intensiv mit “peaceful dispute resolution”, gewaltfreier Konfliktlösung.

Fisher selber hat immer großen Wert darauf gelegt, dass seine Prinzipien an ihrer Praktikabilität, an ihrer Praxisbewährung gemessen werden. Als größtes Problem in der Umsetzung stellte sich heraus, dass manche Streitsituation bereits so verfahren oder so weit eskaliert war, dass die Beteiligten die schönen Prinzipien eben nicht mehr praktisch anwenden konnten. Auch fehlen bis heute vielen Menschen die dazu nötigen, weiter oben beschriebenen kommunikativen Kompetenzen. Als sehr erfolgreiche Antwort auf dieses Problem hat sich die Mediation erwiesen. Mediation ist ein englischer Begriff und bedeutet Vermittlung. Ein Mediator ist also ein Vermittler im Konflikt. Streitschlichtung durch Dritte, eben durch Vermittler, gab es zu allen Zeiten. Neu war ein strukturiertes Verfahren, das in genau definierten Schritten dafür sorgte, dass die Konfliktparteien die beschriebenen Harvardprinzipien einhalten konnten. In der Mediation schlägt der Vermittler keine eigenen Lösungen vor, sondern vertraut ganz den Lösungsressourcen der Beteiligten. Sie sind die “Experten des Konflikts” und sie allein entscheiden, ob ihre Lösungen fair, tragfähig und zu beiderseitigem Vorteil sind. Der Mediator ist “lediglich” der Verantwortliche für den Gesprächsprozess. Als “allparteilicher” Vermittler ist er auf das Vertrauen aller Konfliktparteien angewiesen und benötigt neben moderativen und kommunikativen Fähigkeiten ein hohes Maß an Verständnisbereitschaft und Empathie. Aus der Mediation wiederum sind die vielen erfolgreichen Streitschlichtungs- oder Konfliktlotsenprogramme unserer Schulen entstanden: Konfliktlotsen sind Schülerinnen und Schüler, “die ein Maß an Handlungswissen erworben haben, mit dem sie Konfliktparteien helfen, die Untiefen, die Sandbänke und Strudel auf dem Weg zur Konfliktlösung zu umschiffen.” (Ortrud Hagedorn)

 

Literatur

-- Besemer, Christoph; Mediation - Vermittlung in Konflikten, Baden 1995
-- Fisher, Roger; William Ury; Bruce Patton: Das Harvard-Konzept: Sachgerecht verhandeln - erfolgreich verhandeln. - Frankfurt [u.a.]: Campus, 2000
-- Hagedorn, Ortrud: Von Fall zu Fall. Pädagogische Methoden zur Gewaltminderung. Eine Veröffentlichung des Berliner Instituts für Lehrerfort- und weiterbildung und Schulentwicklung in Berlin zu Schulmediation. Berlin 2000.
Zu beziehen über Tel. 030 / 90172 – 111

 

Internetlinks

Zum Harvard Negotiation Project:

http://www.pon.harvard.edu/research/projects/Harvard Negotiation Project.php3

Zum Harvard Negotiation Research Project:

http://www.pon.harvard.edu/research/projects/hnrp.php3